Studentenleben

Tinder, die Sozialstudie eines Couchpotatoes

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Geschrieben von Bienchen

Eine Sozialstudie in unserer Wegwerfgesellschaft.

Wie oft habe ich mitbekommen wie mein damals bester Kumpel Mädels auf Tinder zur Seite wischte und mir gedacht, wie erbärmlich und traurig das sein muss, so verzweifelt nach, ich zitiere: „Der großen Liebe“ zu suchen. Damals war ich aber noch in einer glücklichen Beziehung und konnte mir nicht vorstellen wie zerfressend der tausendste Freitagabend allein vorm Fernseher sein kann.

Für mich war es lange unvorstellbar, auch wenn die Neugierde bestand, Tinder auf meinem Smartphone zu installieren.

Ich hätte das Gefühl gehabt mich als ein Stück Fleisch in einen Käfig voller Raubtiere zu begeben und wollte mich selbst nicht so gering schätzen. Doch nachdem Schluss war mit der Friede-Freude-Eierkuchen-Welt meiner Beziehung, habe ich mich ziemlich alleine gefühlt und mein Selbstbewusstsein war ordentlich angeknackst.

Für die echte Welt war ich zu schüchtern und introvertiert und sowieso war ich viel zu faul meinen Hintern an einem Freitagabend von der Couch hoch in einen Club zu bewegen. Tinder war jedoch nach wie vor, so dachte ich, unter meinem Niveau. Ein Fünkchen Selbstwertgefühl wollte ich mir dann doch erhalten und konnte absolut nicht verstehen, was eigentlich alle an Tinder so toll fanden.

Bis zu dem einen Abend als mir ein guter Kumpel vorschlug Tinder doch einfach mal auszuprobieren. Er würde es auch benutzen und hätte schon viele tolle Leute kennen gelernt. Es wären auch nicht alle nur nach einer schnellen Nummer aus. Besagter Freund hatte oftmals eine ähnliche, wenn auch unkonventionelle Denkweise wie ich, also beschloss ich das ganze als wissenschaftliches Projekt gegen meine Verkopftheit anzugehen. Wie absurd.

Tinder als Sozialstudie, Fotos:

Schon kurz nach Installation der App wurde ich unwillkürlich auf mein mangelndes Selbstbewusstsein aufmerksam gemacht. Profilfotos. Nun gut, ich bin jetzt nicht aufs schlimmste entstellt, okay sagen wir wies ist, ich arbeite als Model, aber es fiel mir schwer ein Foto auszuwählen. Nicht weil es keine schönen gab, sondern ich überlegte mir ganz genau, welche Botschaft ich mit einem Foto vermitteln könnte, aber nicht wollte. Welche Zielgruppe wollte ich ansprechen?

Ich beschloss mein Profilfoto wöchentlich zu ändern, um so unterschiedliche Probanden hervorzulocken.

Gleichzeitig fragte ich mich bei der Betrachtung von Fotos des gleichen, sowie des anderen Geschlechts, was die sich eigentlich dabei dachten. Dachten sie überhaupt? Zunächst wurde die weibliche Konkurrenz ausgecheckt. Das war irgendwo sehr beruhigend, denn den meisten konnte man dank Instagram Hundefiltern und Ausschnitt bis in die Kniekehlen direkt ansehen, dass sie nicht verkopft waren. Ja, auf Tinder punktet man nicht mit Intelligenz. Erstmal.

Das männliche Geschlecht ging meiner Meinung nach etwas dezenter auf Beutefang, jedoch war auch hier schnell ein Muster zu erkennen. Meist waren drei Typen an Fotos im Angebot.

1. Lässig, sexy am Strand oder Fitnessstudio

2. Gut gekleidet (am besten im Anzug) auf irgendeiner Hochzeit oder Abiball

3. Extrem cool am besten mit Sonnenbrille auf einem Motorrad oder an einem schicken Sportflitzer lehnend, mit Freunden umgeben.

Liebe Männer, ihr habts drauf. Im Grunde hat eine Frau damit alle Informationen die sie braucht.

Wie sieht sein Körper aus? Ist er im Anzug vorzeigbar, also Heiratsmaterial ? (ja es ist Tinder, aber das ist Frauenlogik) Und wie ist er finanziell bzw. gesellschaftlich aufgestellt… also auf Deutsch: Alphamännchen ja oder nein?

Sozialstudie – Schritt für Schritt: Name und Anschrift bitte

Angenommen die Fotos waren ansprechenden und stellten den zukünftigen Mister Perfekt nicht als selbstverliebten Volltrottel hin. Wurde der Name, das Alter und der Beruf in Augenschein genommen.

Alles was genauso alt war wie ich, fiel schon mal flach. Ich hatte keine Lust auf spätpubertäre Verhaltensweisen von Jungs, die groß genug sind, um zu studieren, aber sich nach wie vor wie kleine Kinder verhalten, wenn es um Frauen und Gefühle geht. Ich wollte einen Mann.

Für seinen Namen kann natürlich niemand was, aber Typen, die wie mein Exfreund hießen, waren leider auch unbrauchbar, der Name war emotional schon belegt.

Das interessanteste war der Beruf. Bei den meisten war Student angeben. So machte ich mir irgendwann einen Spaß daraus und versuchte anhand der Fotos zu erraten, was das Fotomodell wohl studieren mochte.

Mädels, an dieser Stelle sei gesagt, es gibt auch ziemlich heiße Informatiker und PhysikerBWLer und Juristen sind längst überholt.

Für mich persönlich waren die Vertreter der letzt genannte Gruppe eh keine Option. Da ich selbst Naturwissenschaften studiere, wollte ich jemanden, der in der Hinsicht auch ein Grundverständnis aufbringen konnte.

Das ist ganz klar Diskriminierung, aber irgendwo doch auch der Sinn hinter dem Auswahlverfahren Tinder.

Sozialstudie – Tinder, wisch und weg:

Am Anfang war ich sehr zurückhaltend was das Wischen anging. Ich hatte zu viel Respekt vor dem Menschen hinter dem Profil und wollte nicht zu oberflächlich und vorschnell urteilen. Ich musste mich also entscheiden was ich wollte. Einen One-Night-Stand, eine Beziehung oder Freundschaft und je nachdem weiter suchen.

Sieht man jemanden an worauf er aus ist? Ich war überrascht, aber oft tatsächlich schon.

Ich entschied mich erstmal alle drei Optionen offen zu halten, auch wenn ein One-Night-Stand eigentlich gar nicht meine Art ist….man kommt schneller als gedacht in Versuchung.

Es wurde also kategorisiert nach

1. Sieht nicht besonders hell aus, aber ist dafür heiß

2. Sieht gut (aber nicht zu gut) und sympathisch aus, könnte also Boyfriendmaterial darstellen und

3. Nicht mein Geschmack, aber er ist witzig (diese Texte, in denen man sich kurz vorstellt, können echt wichtig werden, wenn man kein bomben Aussehen vorweisen kann)

Sozialstudie – Ein Match:

Über die Zeit hinweg wurde ich weniger zurückhaltend. Die Krankheit “Ist ja nur im Internet“ hatte mich infiziert und Erfahrungen zeigten mir, dass es andere ähnlich handhabten. Es wurde also öfter geliked, aber auch härtere Ausschlusskriterien aufgestellt. Mich hatte eine gewisse Sucht ergriffen und ich hatte Spaß daran gefunden Menschen nach ihrem Aussehen zu beurteilen – somit war ich Teil meiner eigenen Sozialstudie geworden. Jap, diese App bringt die Vorurteile gegenüber Menschen und Äußerlichkeiten schnell zum Vorschein. Obwohl ich zuvor der Annahme war, man könnte einem Menschen seinen Charakter nicht ansehen und aus einer Internetkonversation nicht aufs echte Leben schließe, wurde mir schnell bewusst, dass das doch geht. Und vor allem wurde mir klar, was eigentlich mein Typ Mann war.

Sozialstudie – Das Gespräch:

Es war mir vorher nicht bewusst gewesen, aber es gibt Regeln bezüglich der Zeit zwischen Match und Kontaktaufbau, die es zu beachten gilt. Zum einen, so wurde mir von einem Freund berichtet, sollte man als Frau nie als erstes Schreiben, das wäre irgendwie needy und total abstoßend. Das ist gut zu wissen in einer Welt voller selbstbewusster, emanzipierter Frauen. Nachdem ich das wusste, fiel mir aber auch schnell auf, dass der Zeitrahmen der Kontaktaufnahme tatsächlich ausschlaggebend war. Aber nicht nur dies, der erste Satz ist alles entscheidend.

Generell ist gegen ein „Hey, wie gehts?“ Nichts einzuwenden, aber wenn man das täglich hört, ist Frau schnell gelangweilt. Auch immer wieder darauf angesprochen zu werden, dass er sich nicht entscheiden könne wen er nun süßer fände, mich oder meine Hunde, naja. Beim ersten Mal wars noch charmant, beim zehnten dann nicht mehr. Wobei ich objektiv betrachtet jedem Versuch großen Respekt zolle, denn wie soll man ein Gespräch süß, witzig, aber nicht zu aufdringlich beginnen, wenn man die Person nur von Bildern kennt.

Soziale Interaktion ist einfach ein komplexes Konstrukt.

Interessant wurde es dann, wenn es darum ging herauszufinden, was das Gegenüber will. Viele schreiben das direkt in ihr Profil, das erleichtert die Sache, dennoch gab es auch hier unterschiedliche Subtypen um diesen Sachverhalt zu klären.

Sozialstudie – Was machst du eigentlich hier?:

Der „Ficken-Typ“ hat in weniger als einer Minute nach dem Match die erste Nachricht mit Inhalt „Ficken?“ Verfasst.

Leute man im Ernst, wo ist eure Erziehung geblieben. Ich verstehe ja, dass ihr keine Zeit verlieren wollt, bevor noch ein Missgeschick mit dem Handy in der linken Hand passiert, aber hat das schon jemals funktioniert? Welche Frau besitzt so wenig Selbstachtung. Selbst wenn ich Bock hätte, ein Satz mit Subjekt, Objekt, Prädikat, wäre bei mir Grundvoraussetzung.

Der charmante Drumrum-Redner, fragt zumindest erstmal wies dir geht und baut eine gewissen emotionale Intimität auf, bevor er dann etwas dezenter Fragt wonach du eigentlich suchst. Dieser Typ war mir persönlich am sympathischsten. Natürlich möchte man wissen, was der andere von einem will, aber man kann das auch mit Witz und gesundem Respekt vor seinem Gegenüber tun. Selbst als ich die Nachfrage auf eine Freundschaft Plus verneinte, blieb er respektvoll und charmant und sagte, ich könne mich gerne bei ihm melden, falls ich es mir anders überlege. Ich schmunzel noch immer darüber.

Und dann gibt es noch den Betrüger. Mädels nehmt euch in Acht. Nicht hinter jedem gut aussehenden, charmanten Kerl, steckt auch ein Solchiger. Ich hatte den Fall, dass ich mit einem wirklich sexy 25-jährigen schrieb, der auch unglaublich charmant war. Irgendwann im Gespräch kippte urplötzlich die Stimmung und er gestand mir, dass er ein 14-jähriger Knirps wäre, der sich über beide Ohren in mich verliebt hätte und dem es unglaublich leid täte mich so hinters Licht geführt zu haben. Meine Reaktion bestanden aus einer Mischung von Mitleid, Ärger und Respekt. Ja, Respekt! Schließlich hatte ich eine ganze Weile nichts gemerkt und er hatte tatsächlich den Mut mich nach einem persönlichen Treffen zu fragen.

Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe mehr an Subtypen und häufig endet das Gespräch genauso langweilig wie es angefangen hat und das ist das Gute am Internet. Match gelöscht und man muss sich nie wieder damit auseinandersetzen.

Dennoch konnte ich herausfinden, dass man mit bestimmten Satzgefügen und Worten, ja indem man gezielt nur bestimmte Sachen von sich preisgibt und formuliert, das Gespräch sehr gut in bestimmte Richtungen lenken kann.

Sozialstudie – Tinder, eine Zusammenfassung:

Nein, ich bin kein Narzisst oder Psychopath und empfinde auch kein persönliches Vergnügen daran Menschen zu manipulieren, aber habe im echten Leben häufig Angst von Menschen verletzt, ausgelacht oder manipuliert zu werden, sodass ich auch auf Kleinigkeiten achte. Das war auf Tinder auf jeden Fall von großem Nutzen.

Ich musste nicht in persönliche Interaktion treten und konnte jeden, den ich nicht mochte, direkt wieder löschen und genauso machten es die anderen auch mit mir. Ich musste also nie groß darüber nachdenken, ob mich jemand nun mag oder nicht und konnte mich selbst ausprobieren. Neue Seiten an mir entdecken. Selbstbewusstsein aufbauen. Flirten, ein bisschen intimer werden und alles ohne Verbindlichkeiten.

Habe ich meine große Liebe gefunden? Nein, dafür bin ich ein zu großer Verfechter von biochemischen Prozessen und Pheromonen (siehe Liebe?! Nein danke, ist mir zu biochemisch).

Hatte ich heiße One-Night-Stands? Auch das nicht. Das lag aber weniger an Angebot und Nachfrage, sondern eher an meiner damals noch verklemmten Einstellung.

Jedoch habe ich ein paar ganz nette Menschen kennen gelernt und mit einem bin ich sogar heute noch befreundet.

Tinder war für mich insgesamt ein sehr interessantes Sozialexperiment, das jedoch schnell langweilig wurde. Schon nach 2 Monaten hatte ich gefühlt alle Anmachsprüche gehört und konnte vorausahnen was als Nächstes kommen würde.

Hatte jedoch auch viele neue Eindrücke über verschieden Menschen und menschliches Verhalten sammeln können, die man sicherlich nicht verallgemeinern kann, die einem aber einen guten Einblick in unsere Gesellschaft geben.

Tinder ist für alle Couchpotatoes eine super Variante, um ganz bequem und unkompliziert neue Menschen kennen zu lernen, sich selbst neu zu erfinden und das Selbstbewusstsein aufzupolieren.

Für mich jedoch ist Tinder ein gutes Beispiel dafür, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben, in der Menschen als Güter, ja schon fast als Maschinen gesehen werden, zu denen man mit ausreichend Abstand (ohne die nötige Menschlichkeit wie Anfassen, Riechen und Hören) Kontakt aufnehmen kann und sich, das ist essenziell, nicht binden muss, dem anderen nichts schuldig und nicht verpflichtet ist. Das ist für viele OK und ausreichend, doch ich gehöre noch zu dem Typ Mensch, der auf der Echtheit und Verbindlichkeit steht. Ich persönlich fühle mich verpflichtet Menschen in meinem Leben (egal wie lange sie darin vorkommen) mit Respekt und Verbindlichkeit entgegenzutreten. Dieses Gefühl von Menschlichkeit ist für mich in der virtuellen Tinder-Dating-Welt irgendwie abhandengekommen und hat mich in meiner eigenen Vorstellung von mir selbst erschüttert. Die Krankheit „Ist ja nur im Internet“ ist eine vielleicht bedeutend bedrohlichere Gefahr als wir ahnen.

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Über den Autor/die Autorin

Bienchen

Eine Seele mit Hirn auf der Suche nach dem großen Ganzen und dem Sinn hinter scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten.

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