Studentenleben

Umgang mit Behinderung – eine Zeitreise durch die Geschichte

Der geschichtliche Umgang mit behinderten Menschen symbolisiert durch einen Rollstuhl mit Jahreszahlen
Geschrieben von Redaktion

Zu allen Zeiten gab es Menschen, die in manchen Situationen besondere Hilfe benötigen – Menschen mit Behinderungen. Dass behinderte Menschen Teil unser Gesellschaft sind, ist heute selbstverständlich, das Konzept der Inklusion setzt sich immer mehr durch. Doch bis dahin war es ein langer Weg.

Die Zeit um Christi Geburt

In dem meisten Kulturen war es gesetzlich erlaubt oder sogar empfohlen, Kinder mit körperlichen Behinderungen nach der Geburt zu töten. Behinderung wurde als Strafe Gottes empfunden. Zahlreiche Quellen aus unterschiedlichen Kulturen berichten, dass die Geburt eines behinderten Kindes als Omen, als Botschaft Gottes an die Familie gedeutet wurde. Ein Neugeborenes, das entweder vom Vater oder vom Ältestenrat als nicht arbeitsfähig eingestuft wurde, wurde getötet. Wurde die Behinderung erst später festgestellt, durfte das Kind auch dann noch getötet werden. Alternative zum Getötet werden war nicht viel besser. Die Kinder wurden als Sklaven verkauft oder als Attraktionen auf Jahrmärkten zur Schau gestellt. Mitunter wurden den behinderten Menschen von ihren Besitzern weitere Makel und Wunden zugefügt, um beim Betteln mehr Mitleid zu erregen und mehr Ertrag zu bringen.

Das Mittelalter

Um diese Zeit hing das Schicksal behinderter Menschen hauptsächlich davon ab, ob ihre Familie arm oder reich war. Es war gesetzlich immer noch erlaubt, behinderte Kinder zu töten, zu misshandeln oder zu verkaufen. Behinderte Menschen hatten das Recht, ihre Gesundheit „zu beweisen“, indem sie in verschiedenen Aufgaben ihre körperliche Leistungsfähigkeit demonstrierten. Zum Beispiel ohne Hilfe auf ein Pferd steigen. Dadurch konnten einige ihre Lebenssituation verbessern. Wer in diesem Test versagte, verschlechterte seine Situation und war lebenslänglich als „Krüppel“ abgestempelt.

Doch mit Ausbreitung den Christentums und der darin gelebten Nächstenliebe, wurde nach und nach die Armenpflege eingeführt. Dabei entstanden auch Häuser, in denen überlebende Menschen mit Behinderung leben konnten. Zwar kümmerte sich die Kirche um Behinderte, Kranke und Verstoßene, hielt aber hartnäckig an dem Glauben fest, dass Behinderung eine Strafe Gottes sei. Menschen, die an Krampfanfällen litten galten als vom Teufel besessen. Im Mittelalter hatte der Exorzismus seine Hochzeit und wurde damals als Fürsorge für Besessene verstanden.

Die Idee der sozialen Fürsorge und deren gesetzliche Verankerung verbesserten die Situation vieler behinderter Menschen. Doch der christlichen Nächstenliebe waren enge Grenzen gesetzt: Arme, Kinder und Juden waren vom gesetzlichen Anspruch ausgenommen. Familien, die behinderte Angehörige innerfamiliär versorgten, wurden nach und nach weniger geächtet, so dass die innerfamiliäre Pflege möglich wurde.  Richtig gut wurden die Lebensbedingungen nur für kriegsversehrte Männer und für reiche Männer.

Neben dem Betteln war nach wie vor auf Jahrmärkten die Hauptverdienstmöglichkeit behinderter Menschen. Sie zogen mit Gauklergruppen umher und ließen sich als „Missgeburten“ oder „Krüppel“ zur Schau stellen und von den Umstehenden verhöhnen.

19. Jahrhundert

Die Zeit der Industrialisierung zog viele Menschen vom Land in die Städte. Die großfamiliären Strukturen lösten sich zunehmend auf und innerfamiliäre Pflege und Fürsorge wurde schwieriger. Immer mehr behinderte Menschen waren auf staatlich bezahlte Einrichtungen angewiesen. Es wurde dabei in Kriegsversehrte und Behinderte unterschieden. Während Kriegsversehrte gut versorgt und nach Möglichkeit wieder in den Arbeitsmarkt integriert wurden, fristeten Behinderte ein Leben auf dem Abstellgleis. Sie lebten außerhalb der Gesellschaft in sogenannten „Anstalten der Irren-, Krüppel- und Gebrechensfürsorge“ ohne Recht auf Schulbildung, Arbeit oder adäquate medizinische Versorgung. Behinderung galt als soziales Problem und geriet in den Fokus der Forschung. Leider gebot die damalige bürgerliche Sozialethik, die Forschung und damit die Lösung dieses Problems mit allen Mitteln voranzureiben, was viele Menschen mit „verkörperten Andersheiten“ zu Testobjekten von Therapie und Präventionsversuchen machte.

20. Jahrhundert

Bis 1930

Die Forschung konzentrierte sich mehr und mehr darauf, die Ursachen und Entstehung von Behinderung zu erklären. Der Glaube, Behinderung sei eine Strafe Gottes, hatte endlich ausgedient. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung drehte sich in staatlichen Einrichtungen alles um Leistungsfähigkeit und nutzbringende Erwerbsarbeit. Es wurden Maßnahmenkataloge entwickelt, um behinderte Menschen in den Arbeitsmarkt gewinnbringend zu integrieren. Auch kirchliche Einrichtungen der „Krüppelfürsorge“ erweiterten ihre Aufgaben um medizinische Therapie und berufsvorbereitende Maßnahmen. Behinderte Kinder durften erstmals eine Schule besuchen, jedoch streng getrennt von „normalen“ Kindern. Behinderte Menschen wurden selbstbewusster und schlossen sich im „Selbsthilfebund für Körperbehinderte“ zusammen. Der Bund konnte 1917 durchsetzen, die diskriminierende Bezeichnung „Krüppel“ durch „Körperbehinderte“ zu ersetzen.

NS-Zeit

Die Zeit der NS-Diktatur brachte einen großen Rückschritt im Umgang mit behinderten Menschen mit sich. Behinderung wurde als Schwäche gesehen und sollte ausgemerzt werden. In den Konzentrationslagern, aber auch in etablierten Krankenhäusern und Einrichtungen wurden wieder Versuche mit behinderten Menschen durchgeführt, deutlich abscheulicher und menschenverachtender als gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Behinderte Menschen galten als nicht lebenswertes Leben und wurden im Rahmen des Euthanasieprogramms zu hunderttausenden zwangssterilisiert und getötet.

Nachkriegszeit

Die während der NS-Zeit durchgeführten Zwangssterilisationen für Menschen mit Behinderungen wurden im Nachkriegsdeutschland abgeschafft, aber erst 2007 als grundgesetzwidrig anerkannt.

1948 wurde die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ deklariert, die aber behinderte Menschen nicht mit einschloss. Es entstand das System der Sonderschulen und erste Werkstätten und Berufsförderwerke für Menschen mit Behinderung.

Behinderung wurde mit Leid gleichgesetzt, das kaum Raum für ein erfülltes Leben zu lassen schien, wenn nicht zumindest die Möglichkeit zur produktiven Tätigkeit bestand. Viele litten darunter, dass ihr Leben als kaum lebenswert bezeichnet wurde.

ab 1960

In den 60er-Jahren sammelten Selbsthilfeorganisationen wie die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Spenden für bessere Bildungsbedingungen. Behindertenverbände wehren sich immer erfolgreicher gegen die Stigmatisierung als „armselige Kreatur“. Das Bewusstsein erwacht, dass es durchaus erfülltes Leben trotz Behinderung geben kann. In den 70er-Jahren entstand dann nach Vorbildern aus den USA und Großbritannien die Behindertenbewegung oder „Krüppelbewegung”: Sie wies mit dem provokanten Wort „Krüppel“ auf die Stigmatisierung behinderter Menschen als Mitleidsobjekte hin und erreichte letztlich, dass 1994 das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Grundgesetz verankert wurde. 1990 wurden endlich auch Kinder mit Behinderungen in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen miteinbezogen.

Auch die gesetzliche Situation änderte sich. Die Rechte behinderter Menschen wurden denen nichtbehinderter angeglichen, so dass sich seitdem auch behinderte Menschen eigene Häuser bauen können und einen Anspruch auf Rentenleistung haben.

21. Jahrhundert

Allmählich setzte sich eine neue Perspektive durch: Es ist vor allem die Gesellschaft, die Menschen behindert. Das Schulsystem wurde überarbeitet. Heute sind verschiedene Schulen für Menschen mit besonderem Betreuungs- und Förderaufwand etabliert, so sind neben den Sonderschulen die Förderzentren entstanden. An nahezu jeder größeren Regelschule gibt es die I-Klassen (Integrative Klassen) in denen behinderte und nichtbehinderte Kinder miteinander lernen.

Die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sollte in Deutschland seit 2002 das Bundesgleichstellungsgesetz gewährleisten, auf internationaler Ebene seit 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention. Der Begriff der Inklusion formuliert außerdem die Absicht, menschliche Vielfalt zu fördern, indem Menschen mit Behinderung genauso wie andere, Zugang zu öffentlichen Einrichtungen haben und dort auch willkommen sind.


Quelle: Giphy

Heute

Heute ist es fast selbstverständlich, dass öffentliche Gebäude über Rollstuhlrampen und Lift verfügen oder dass Ampeln über akustische Signale für blinde Menschen verfügen. Und dennoch gibt es schulisch wie gesellschaftlich noch viel zu tun. Behinderung ist im Blickfeld der Öffentlichkeit angekommen, jetzt liegt es an jedem von uns, echte Inklusion, uneingeschränkte Teilhabe zu ermöglichen.

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